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Staatsanwaltschaft zieht Bilanz für das Jahr 2022 – Erheblicher Anstieg der Verfahrenseingänge – Durch Verbrechenscharakter des Besitzes und der Verbreitung kinderpornographischer Schriften (§ 184b StGB) geht Flexibilität der Strafverfolgungsbehörden im Einzelfall verloren – Fokus auf antisemitisch motivierte Straftaten
Datum: 29.06.2023
Kurzbeschreibung: Die Staatsanwaltschaft zieht Bilanz zur Geschäftsentwicklung für das abgelaufene Jahr, das nach drei Jahren im Zeichen der Covid19-Pandemie wieder von mehr Freiheiten, aber auch mehr Straftaten geprägt war.
So hat die Zahl der Verfahrenseingänge bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart wieder spürbar zugenommen. Nach einem Höchststand im Jahr 2020 und einem leichten Absinken der Eingangszahlen im Jahr 2021 stieg die Zahl der im Jahr 2022 eingeleiteten Verfahren gegen namentlich bekannte Beschuldigte mit 123.096 Verfahren um 5,9 % auf ein Allzeithoch.
Der größte Zuwachs bei den Verfahrenseingängen war im Bereich der Verstöße gegen das Aufenthaltsgesetz (+ 54,3 %) zu verzeichnen. Ein Großteil der zusätzlich eingegangenen Verfahren ist darauf zurückzuführen, dass mit der Wiederaufnahme des Flugbetriebs am Flughafen Stuttgart und der Rücknahme der Ausgangsbeschränkungen vermehrt Personen über den Flughafen ausgereist sind, die sich seit längerem unerlaubt im Bundesgebiet aufhielten, allerdings pandemiebedingt ihre Ausreise zurückstellten. Des Weiteren organisierten Schlepper in größerem Umfang die Einreise von Personen aus außerhalb des Schengen-Raums stehenden Staaten in Südosteuropa, die für jeweils 90 Tage zur Pflege älterer und kranker Menschen unerlaubt in das Bundesgebiet einreisten.
Bei den Verfahrenseingängen gab es neben dem Bereich der Verstöße gegen das Aufenthaltsgesetz Zuwächse im Bereich der Wirtschaftsstrafsachen (+ 21,7 %), der Betäubungsmittelstrafsachen (+13,1 %), der Verkehrsstrafsachen (+11,5 %) und der Allgemeinen Strafsachen (+3,5 %). Ein Großteil des Zuwachses bei den Wirtschaftsstrafsachen ist dabei auf Nachwirkungen der Covid19-Pandemie mit den beiden neuen Kriminalitätsphänomenen des Subventionsbetrugs im Zusammenhang mit Corona-Beihilfen und des Abrechnungsbetrugs bei Corona-Testzentren sowie auf die Zunahme der Betrugsdelikte über Onlineplattformen zurückzuführen. Die Eingänge im Bereich der Sexualdelikte gingen hingegen – vermutlich auf Grund des wellenförmigen Anzeigeverhaltens des in den Vereinigten Staaten von Amerika ansässigen gemeinnützigen National Center for Missing & Exploited Children (NCMEC), das kinderpornografische Inhalte mit Bezug in die Bundesrepublik an das Bundeskriminalamt meldet – mit -40,1 % in erheblichem Maße zurück.
Mit Wirkung zum 1. Juli 2021 wurde der Straftatbestand des Besitzes und der Verbreitung kinderpornographischer Schriften (§ 184b StGB) zu einem Verbrechen hochgestuft. Im Falle einer Verurteilung liegt das Strafmaß bei einer Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr. Einstellungen aus Opportunitätsgründen, etwa in Fällen, in denen Teilnehmer von Chatgruppen unaufgefordert einzelne kinderpornographische Bilder zugesandt bekamen oder Eltern entsprechende Bilder aus einem Klassenchat des Kindes zwecks Aufklärung an den Lehrer übersandten, sind damit nicht mehr möglich. „Dies nimmt den Strafverfolgungsbehörden die nötige Flexibilität für den Einzelfall. Im Geschäftsbereich der Staatsanwaltschaft Stuttgart betraf die Mehrzahl der durch Anklageerhebung abgeschlossenen Verfahren Fälle, bei denen nach altem Recht maximal eine Geldstrafe im Umfang bis zu 90 Tagessätzen in Betracht gekommen wäre. Seit Anhebung des Strafrahmens wird in der Folge insgesamt ein strengerer Maßstab bei der Beurteilung des Vorsatzes angelegt. Aus der Praxis sind daher Forderungen nach einer Änderung des Gesetzes laut geworden, sei es durch Einführung eines minder schweren Falles oder durch Änderung des Strafrahmens zu einem Vergehen mit erhöhter Mindeststrafe. Es bleibt abzuwarten, ob und inwieweit der Gesetzgeber aktiv wird“, erläutert der Leitende Oberstaatsanwalt Dr. Dittrich.
Zunehmend in den Fokus rückte im vergangenen Jahr auch die Bekämpfung der Hasskriminalität. Mit dem am 03.04.2021 in Kraft getretenen Gesetz zur Bekämpfung des Rechtsextremismus und der Hasskriminalität wurden im Strafgesetzbuch insbesondere die Tatbestände der „Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten“ (§ 126 StGB), der „Belohnung und Billigung von Straftaten“ (§ 140 StGB) und der „Bedrohung“ (§ 241 StGB) erweitert. Öffentlich oder durch Verbreiten von Schriften getätigte Beleidigungen (§ 185 StGB) unterliegen nunmehr einer höheren Strafandrohung. Ferner wird klargestellt, dass der besondere Schutz von im politischen Leben des Volkes stehenden Personen vor übler Nachrede und Verleumdung (§ 188 StGB) bis hin zur kommunalen Ebene reicht. Zudem wurde der Katalog der Strafzumessungsgründe (§ 46 Absatz 2 Satz 2 StGB) ausdrücklich um „antisemitische“ Beweggründe ergänzt. „Es ist verstärkt zu beobachten, dass sehr viele Straftaten mit einem rechtsextremistischen, antisemitischen oder fremdenfeindlichen Hintergrund über das Internet begangen werden. In der Annahme vermeintlicher Anonymität oder zumindest mangels unmittelbarer sozialer Kontrolle werden in sozialen Medien, Chatgruppen und auf Webseiten antisemitische Parolen mit volksverhetzendem und beleidigendem Gegenstand veröffentlicht. Allein im vergangenen Jahr wurden 32 Ermittlungsverfahren mit antisemitischer Motivation neu eingeleitet. Sofern die Täter ermittelt werden können, wird seitens der Staatsanwaltschaft Stuttgart eine konsequente und spürbare Strafverfolgung in diesem Bereich angestrebt“, erklärt Dr. Dittrich weiter. So wurde im Jahr 2022 ein 35-jähriger Mann vom Amtsgericht Stuttgart wegen des Vorwurfs der Volksverhetzung in 5 Fällen sowie des Verwendens von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen in 7 Fällen sowie der öffentlichen Aufforderung zu Straftaten über soziale Medien zu einer Gesamtfreiheitsstrafe von zehn Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zur Bewährung ausgesetzt wurde. Ein weiterer 59-jähriger Angeklagter wurde wegen Volksverhetzung in drei Fällen – ebenfalls über soziale Medien begangen – zu einer Geldstrafe von 130 Tagessätzen verurteilt. Eine volksverhetzende Sprachnachricht in einer WhatsApp-Gruppe, an der auch eine Person jüdischen Glaubens teilnahm, zog für einen 25jährigen eine Geldstrafe in Höhe von 100 Tagessätzen nach sich. Ebenso bestraft wurde ein 35 Jahre alter Mann, der in Ludwigsburg Außenfassaden von insgesamt vier Gebäuden mit antiisraelischen und antisemitischen Schriftzügen besprüht hatte.
Trotz erhöhter Eingangszahlen im Jahr 2022 wurden mit insgesamt 119.667 Verfahren gegen 136.052 Beschuldigte etwa 3 % mehr Verfahren erledigt als im Vorjahr. Gleichwohl konnten die erheblichen Verfahrenseingänge nicht durch die Erledigungen ausgeglichen werden. Die Anzahl an unerledigten Js-Verfahren zum Ende des Jahres im Vergleich zum Vorjahr stieg erheblich um 22,7 % auf 18.535 an. Die durchschnittliche Dauer eines Verfahrens vom Eingang bei der Staatsanwaltschaft Stuttgart bis zu dessen Erledigung liegt gleichwohl noch im langjährigen Durchschnitt bei etwa 54 Tagen.
Im Jahr 2022 wurden in 7.143 Verfahren Anklagen erhoben. Dies sind etwa 5 % weniger als im Vorjahr (7.511 Verfahren). Während die Zahl der Anklagen zum Landgericht Stuttgart nur leicht zurückging, nahm die Anzahl der Anklagen zu den Schöffen- und Jugendschöffengerichten der Amtsgerichte deutlich von 1.650 auf 1.453 (-11,9 %) ab. Demgegenüber stieg die Zahl der Strafbefehlsanträge von 16.997 im Jahr 2021 auf 18.144 im Jahr 2022 moderat um 6,7 % an. Damit wurden ca. 13 % aller Js-Verfahren durch Anträge auf Erlass eines Strafbefehls beendet.
Die Zahl der Einstellungen blieb mit 95.456 Verfahren und einem Plus von 0,5 % gegenüber dem Jahr 2021 nahezu unverändert. Mit 40.662 Verfahren (2021: 40.193) wurden ca. 30 % aller Js-Verfahren durch Einstellung gem. § 170 Absatz 2 Strafprozessordnung (StPO) erledigt, da die Ermittlungen keinen hinreichenden Tatverdacht gegen den Beschuldigten ergeben hatten und eine Verurteilung daher nicht zu erwarten war. Die Einstellungen nach § 153 StPO wegen geringer Schuld des Täters nahmen im Jahr 2022 um +28,5 % auf 10.628 zu.
Hintergrund:
Die Staatsanwaltschaft Stuttgart besteht aus 31 Abteilungen, die sich in 28 Ermittlungsabteilungen und drei Vollstreckungsabteilungen sowie
die Verwaltung aufgliedern. Die Ermittlungsabteilungen werden ihrerseits in insgesamt fünf Hauptabteilungen zusammengefasst.
Der Behörde gehören (Stand: 31. März 2023) insgesamt 414 Beschäftigte an; davon sind ca. 73 % weiblich. Mit 177 Staatsanwältinnen und Staatsanwälten (Frauenanteil: 58 %) sowie 18 Amtsanwältinnen und Amtsanwälten (Frauenanteil: 61 %) ist die Behörde nach den Staatsanwaltschaften in Berlin, Hamburg, München und Köln die fünftgrößte der insgesamt 116 Anklagebehörden im Bundesgebiet.